Lake X

Mercury`s geheime „Area 51“

Als E. Carl Kiekhaefer, Präsident von Kiekhaefer Marine, das 1971 in Mercury Marine umbenannt werden sollte, im Jahr 1957 mit einem kleinen einmotorigen Flugzeug über den Sümpfen von Florida kreiste, um einen Ort zu finden, an dem er seine Bootsmotoren Tag und Nacht heimlich testen konnte, war ihm sicher nicht klar, dass dies der Beginn einer Legende sein sollte.

Suche nach einer Test-Location per Flugzeug

Elmer Carl Kiekhaefer wurde 1906 in Mequon, Wisconsin, geboren, machte seinen Abschluss an der Cedarburg High School, besuchte lediglich ein Jahr lang die Milwaukee School of Engineering, belegte Erweiterungskurse in Elektrotechnik an der University of Wisconsin, und wurde 1927 von Evinrude Motors eingestellt, und schon bald darauf wieder wegen „häufiger, beunruhigender und unverschämt aufmüpfiger Auseinandersetzungen über Design und Produktentwicklung”gefeuert.

Weltberühmt und Synonym für hohe Leistung auf dem Wasser: Das Mercury-Logo. (Foto: C. Schneider)

Ein Fehler, über den sich die Evinrude-Manager nachhaltig geärgert haben dürften. In der Regel sind es bekanntlich nicht die „Ja“-Sager, die etwas voranbringen, sondern die eher Querulanten. Kiekhaefer jedenfalls erhielt im Laufe seines Lebens 200 Patente, gewann 52 NASCAR-Rennen, aus denen 1955 und 1956 Meisterschaften hervorgingen, und gründete Kiekhaefer Marine, das Unternehmen, das später zu Mercury Marine wurde und Meilensteine auf dem Gebiet der Bootsmotoren setzte.

Aus der Luft entdeckte das Team schließlich eine ca. drei Meilen lange und ungefähr eine Meile breite Wasserfläche inmitten von Wäldern und Sümpfen, fernab menschlicher Ansiedlungen. Der Lake Conlin und dessen Umgebung waren in jeder Hinsicht ideal, um hier eine geheime Testanlage für die Produktentwicklung zu etablieren. Um kein Aufsehen zu erregen und falsche Fährten zu legen, bekam das Gelände den Code-Namen „Lake X“. Nach dem Kauf wurden ein kleiner Hafen, Bootsanleger, Werkstätten, Slipmöglichkeiten und den Berichten zufolge sogar ein “Motel” mit sechs Zimmern gebaut, und so Möglichkeiten geschaffen, völlig ungestört und unbeobachtet Motoren zu testen, zu tunen und zu optimieren.

Mercury`s Testcenter Lake X ist legendär, der Beobachtungsturm mit seinen charakteristischen runden Fenstern ist quasi das Wahrzeichen der Anlage.(Foto: C. Schneider)

“Operation Atlas” – der 50.000 Meilen-Test

Schon kurz nach der Inbetriebnahme des Testcenters wurde mit der „Operation Atlas“ das vielleicht legendärste Projekt am Lake X durchgeführt und das unter offizieller Aufsicht des US-Automobilclubs USAC: Um der Kritik an der Langlebigkeit und Zuverlässigkeit von Außenbordern zu begegnen, konzipierte Kiekhaefer eine „Non-Stop-Weltumrundung” mit zwei Booten, die von 60 PS Mercury Mark 75 Außenbordern angetrieben wurden.

50.000 Meilen-Run: Bei der Operation Atlas wurden die Boote mit Mark 75 Mercury Motoren Non-Stop Tag und Nacht rund um den Lake X gehetzt. Fahrerwechsel und Betankung fanden während der Fahrt statt (Foto: Mercury)

Es wurde Tag und Nacht gefahren, die Versorgung der Fahrer, Fahrerwechsel und auch Betankungen fanden dabei im laufenden Betrieb alle vier Stunden während der Fahrt statt. Nach knapp 34 1/2 Tagen hatte die beiden Boote den Lake X 4.526-mal umrundet und legten dabei jeweils eine Distanz von 25.003 Meilen (ca. 40.238 km) zurück. Anschließend wurden die Motoren unter Aufsicht der USAC zerlegt, überprüft, wieder zusammengesetzt, neu versiegelt und am Heck neuer Boote nochmal über dieselbe Distanz gehetzt, ohne dass es zum Ausfall einer der Motoren kam. Die Operation Atlas dürfte damit das exotischste aller Langstreckenrennen in der Geschichte der Schifffahrt sein. Die Zuverlässigkeit der Mercury Motoren stand ab sofort nicht mehr in Frage.

Einen, sehenswerten historischen Film dazu gibts unter https://youtu.be/ZUrhOwIet-A

“Dialed in at Lake X”

In den nächsten Jahrzehnten wurden am Lake X Generationen von Mercury Motoren und Antrieben getestet, die Performance von Rennteams verbessert und an der Entwicklung neuer Motoren und Antriebe geforscht. Im Laufe der Zeit wurde der Lake X zur vorübergehenden Heimat von Rennteams und Bootsbauern aus der ganzen Welt, um zu testen und die Performance der Boote zu verbessern. Der große Aufkleber “Dialed in at Lake X” war bei Rennboot-Fahrern sehr begehrt. Legenden rankten sich bald um Lake X und die Spekulationen darüber, was hier gerade getestet wird, um Boote auf Kurs und Speed zu bringen, hatten nicht immer etwas mit den Realitäten zu tun. Lake X hatte in der Boots-Szene bald einen mystischen Ruf, ähnlich der legendären Area 51 des US-Militärs, auf dem angeblich abgestürzte Raumschiffe außerirdischer Aliens gelagert werden.

Die typischen Sumpfzypressen mit den langen Behängen aus spanischem Moos prägen die Vegetation rund um den Lake X (Foto: C. Schneider)

Rückzug und Comeback

Im Jahr 1984 haben Alligatoren und Schlangen aber erstmal Ruhe vor hochdrehenden Motoren. Mercury verkauft das Grundstück an die Kirchman Foundation, eine gemeinnützige Naturschutzorganisation. Dabei mag es eine Rolle gespielt haben, dass die drei Meilen des Sees nicht mehr ausreichten, um die modernen Hochleistungsboliden der Mercury-Rennteams auszureizen. Nach einigen Jahren der Abstinenz vom Lake X ist Mercury aber seit dem Jahr 2018 wieder zurück am See und pachtet das Hafengelände von Kirchman, um neue Motoren und Modelle zu testen und auch, um neue Motoren zu präsentieren. So wie z.B. im November 2022, als ausgewählte Vertreter der internationalen Fachpresse eingeladen wurden, um den neuen Mercury Verado V10 ausgiebig über den ca. 5,8 Meilen langen Rundkurs des Lake X zu hetzen und im wahrsten Sinne im Test zu „erfahren“.

Auf dem internationalen Presseevent hatten Fach-Journalisten die Gelegenheit, den neuen Mercury Verado V10 Motor und weitere Neuheiten aus dem breiten Portfolio der Firmen der Brunswick-Gruppe zu testen. (Foto: C. Schneider)

Der Bus biegt nach ca. vierzig Minuten Fahrt von Orlando aus rechts ab von der U.S. Route 441, die Florida von Norden aus von der Grenze zu Georgia bis in den Süden nach Miami durchzieht. Weiter geht’s auf einer schmalen Landstraße, rechts sind noch ein paar Ansiedlungen zu sehen, aber bald beherrschen sumpfiges Grasland und Wälder aus mit langen „Bärten“ aus sog. spanischem Moos behangenen Sumpfzypressen die Landschaft. Ca. 15 Minuten später fahren wir an einem langen, hohen Metallgitterzaun entlang, bevor wir in eine Sackgasse einbiegen, an deren Ende sich ein schlichtes, langgezogenes cremeweißes Werkstatt- und Betriebsgebäude befindet. Amerikanische Pickup-Trucks dominieren die Fahrzeugflotte auf dem Parkplatz, auffällig an dem Gebäude sind die runden, nach außen gewölbten Fenster. Das charakteristische, weltberühmte Mercury -Logo mit dem M auf der Welle an der Hauswand lässt keinen Zweifel aufkommen, dass wir unser Ziel erreicht haben.

Modernes Testcenter mit Tradition

Das Werksgebäude von der Wasserseite. Durch die großen Toren können die Boote in die Werkshallen eingefahren werden, und dort mit Portalkränen gekrant werden. (Foto: C. Schneider)

Das Areal ist von ca. 4000 Hektar Sumpf und Wald umgeben und das feucht-tropische Klima lässt keine Bausubstanz davonkommen und hat auch hier seine Spuren in die Gebäude und Anlagen genagt. Wären da nicht die zahlreichen Kollegen und Mercury-Mitarbeiter, würde das Ganze an eine Szene aus James Bond erinnern, der eine dubiose geheime Fertigungsstätte gefunden hat. Eines der großen Tore des Gebäudes ist offen – Doch hier ist nichts dubios und geheim: Der Hersteller hat das „Who is Who“ der neuesten Mercury-Entwicklungen antreten lassen – angefangen vom damals kurz vor der offiziellen Markteinführung stehenden elektrischen Avator, über die V6 und V8 Motoren, den brandneuen V10 bis hin zum gewaltigen 600 PS starken Verado V12. Die weiteren Werksräume, die über große Tore zum Wasser hin mit dem Boot direkt angefahren werden können, sind mit Stellwänden zugestellt. Na gut – ums Eck luschern dürfen wir mal unter Aufsicht, aber die Kamera bleibt bitte draußen. Es zeigen sich Werkstätten, Werkzeuge Portalkräne über den Wassergräben, die verschiedensten Motorenmodelle in unterschiedlichen Stufen der Demontage… hier wird gearbeitet, geschraubt, getunt.

Floridas Wildlife ist kein Streichelzoo und am Lake X durchaus präsent. (Foto: C. Schneider)

Aliens, fremdartige Bootsmotoren, die mit Warp-Antrieb auch Lichtgeschwindigkeit erreichen oder reptiloide Mercury-Mechaniker konnten wir nicht entdecken. Die arbeiten wahrscheinlich unterirdisch – irgendwo müssen sie ja sein! Immerhin: Stattdessen warnt ein Schild vor Alligatoren und Schlangen und bittet darum, diese bei eventueller Sichtung nicht zu füttern. Ich werde mich hüten! Auf den ersten gesichteten Alligator wird von den Kollegen ein Preis in Form eines Freibiers im Hotel abends ausgelobt, die beiden Florida-Sandhill-Kraniche, die elegant und vom Spektakel völlig ungerührt das Gelände abschreiten, sind nicht spektakulär genug für ein Freigetränk.

Auf der Vorderseite findet sich ein kleines Hafenbecken, eine Bunkerstation und am Ende der Hafenausfahrt der berühmte Lake X Beobachtungsturm mit den runden Fenstern – quasi das Wahrzeichen der Anlage. Das Betreten ist leider verboten – auch hier nagte der Zahn der Zeit und das subtropische Klima. Im großen Hafenbecken an der Frontseite des Werksgebäudes selbst hat die Brunswick Gruppe mächtig aufgefahren – ein Querschnitt der verschiedenen Marken der Unternehmensgruppe präsentieren sich mit Twin-, Tripple- und sogar Quattro-Motorisierung – samt und sonders mit 10 Zylindern und wenigstens 350 PS. In einem kleineren Hafenbecken mitten in der Wiese an einem Holzsteg finden sich weitere, kleinere Boote mit Single-Antrieb – na dann: Attacke!

Anspruchsvolles Revier auf dem Lake X

Raus geht’s auf den Lake, dessen Ufer ebenfalls dicht von den charakteristischen Sumpfzypressen bewachsen sind. Der V10 ist wirklich erstaunlich leise und zieht gewaltig durch. Das Kielwasser präsentiert sich in einem „Farbenspiel“ von sumpfbraun bis schmutzweiß. Der Blick aufs Echolot verrät warum: Die Wassertiefe bewegt sich im Schnitt bei lediglich bummelig drei Metern, der Grund ist sumpfig-schlammig. Alligatoren sind heute keine zu sehen.

Bei scharfem Wind bietet das flache Testrevier überraschend anspruchsvolle und raue Bedingungen. Die neue Sea Ray SLX 260 hatte hier keine Probleme. (Foto: C. Schneider)

Auf dem See gibts eigene Verkehrsregeln, damit sich die Fahrer im Test- und Geschwindigkeitsrausch nicht gegenseitig übermangeln. Gefahren wird von der Hafenausfahrt grundsätzlich gegen den Uhrzeigersinn auf einem Rundkurs über den See. Feuer geben darf man, wenn die Ansteuerungstonnen der Hafeneinfahrt passiert wurden. Wer stoppen will, um z.B. einen Fahrerwechsel durchzuführen, oder Manöver zu fahren, steuert in die Mitte des Sees und fährt von dort aus rechtwinklig wieder auf die Außenbahnen und gewährt denen, die mit Speed auf dem Rundkurs fahren, die Vorfahrt. Das funktioniert gut, die Mercury-Crew achtet darauf, dass alle sich dranhalten. Während wir am ersten Testtag Bedingungen vorfinden, wie auf einem Enten-… äh… Alligatorenteich – scheppert es am nächsten Tag recht ordentlich und ein scharfer Wind treibt eine erstaunlich ruppige Welle über den flachen See. Jetzt ist der ganze Alligator gefordert und zudem sind es ideale Bedingungen für Rauwassertests z.B. mit der brandneuen SeaRay SLX 260, deren Prototyp sich mit einem Mercury Verado V10-350 am Heck hier gar keine Blöße gibt (siehe Test im MotorBoot Magazin 02/2023).

Engagement und Leidenschaft

Das Versuchsboot mit einem neuen Hochvolt E-Aggregat gehörte zu den Überraschungen und bis dahin gut gehüteten Geheimnissen des Mercury Test- und Entwicklungszentrums. (Foto: C. Schneider)

Nach weiteren Testfahrten nähert sich das exklusive Presseevent am Lake X dem Ende. Drei Tage hatten wir die Gelegenheit, den Mercury-Ingenieuren Löcher in den Bauch zu fragen, die neuesten Mercury-Motoren zu testen, Prototypen der Werften der Brunswick-Gruppe zu fahren und Software- und Navigationslösungen der Navico-Group kennen zu lernen und hinter die Kulissen des legendären Testcenters am Lake X in den Sümpfen zu gucken. Aliens oder Warp-Antriebe deren Bauteile aus gestrandeten, geheimen außerirdischen Booten entnommen wurden, haben wir keine entdeckt. Dafür haben uns die Mercury- und Brunswick-Teams mit ihrem Engagement, der Leidenschaft und Professionalität und natürlich nicht zuletzt mit den modernen und leistungsfähigen Motoren der neuesten Generation beeindruckt. Sie ließen uns einen Blick hinter die Kulissen erhaschen und gaben uns einen Ausblick auf das, was Mercury für die Zukunft testen und zur Serienreife entwickeln wird, wenn sich die Tore am Lake X hinter uns wieder schließen und die Alligatoren wieder die Wache übernehmen – hier in den Sümpfen Floridas in Mercury`s geheimer „Area 51“.

www.mercurymarine.com

Die beiden Kraniche nehmen den internationalen Presserummel und die Testfahrten mit Gelassenheit und stolzieren erhaben über das Testgelände. (Foto: C. Schneider)